Die Klippen von Schwerin

Nach einigen Fehlversuchen zur Ablösung des veralteten IT-Systems IDVS II entschloss sich das AOK-System im Jahr 2000, eine GKV-Branchenanwendung zusammen mit der SAP und auf Basis deren Standard-Software zu entwickeln. SAM, der „SAP-AOK-Master“, startet ein Jahr später. Udo Patzelt trägt die Personalnummer 76 bei der AOK Systems und hat die Entwicklung von Anfang an mit allen Höhen und Tiefen begleitet.
 
Seit wann sind Sie eigentlich schon bei der AOK Systems?
Seit Ende 2001, davor war ich IT-Verantwortlicher bei der AOK Baden-Württemberg.
 
Können Sie sich noch an Ihren ersten Tag bei der AOK Systems erinnern?
Nein, er kann also nicht so schrecklich gewesen sein, da ich geblieben bin (lacht).
 
Sie kannten das Unternehmen schon ziemlich gut, oder?
Ja, ich war Mitglied des IT-Beratungsteams des AOK-Bundesverbandes. Hier wurde entschieden, IDVS II abzulösen und auf der Basis von SAP eine neue Software zu entwickeln. Das Projekt lief am Anfang etwas holprig. Da hat mich Klaus Schmitt, der ebenfalls im IT-Beratungsteam war, gefragt, ob ich nicht Verantwortung übernehmen möchte. Ich habe zugesagt und zunächst den Bereich Basistechnologie verantwortet.
 
Das IT-Beratungsteam war also so etwas wie die Keimzelle, hier wurde Zukunft vorausgedacht?
Damals hatte die IT des AOK-Bundesverbandes bei den AOKs nicht den besten Ruf. Jede AOK kritisierte irgendwas. Herbert Reichelt, der Initiator des IT-Beratungsteams, hat sich dann gedacht: Bevor der BV dauernd mit allen AOKs rumdiskutieren muss, holen wir uns einfach die Meinungsbildner in ein Gremium. Wenn die dann hinter einem Projekt stehen, zieht wahrscheinlich auch die AOK-Gemeinschaft mit.
 
Keine schlechte Strategie?
Absolut, denn ehrlich gesagt war der Begriff Meinungsbildner nicht ganz richtig. Die größten Querulanten im System trifft es wohl eher. Er hat einfach die Kritiker in die Pflicht genommen. Und damit lag er wohl richtig (lacht).
 
Das war vor knapp 20 Jahren, das erste iPhone war noch sieben Jahre entfernt. Hatten Sie als Experte schon eine ungefähre Ahnung, wie die Digitalisierung die Welt ändern würde?
Das konnte niemand voraussehen. Genauso wenig, wie man heute voraussehen kann, wie die IT-Welt in fünf oder zehn Jahren aussieht.
 
Das SAM-Büro hat im Mai 2002 seine Arbeit aufgenommen. Wie war das Arbeitsklima in den ersten Jahren bei der AOK Systems?
 
Wir haben sehr engagiert und intensiv an den Projekten gearbeitet. Aber wir mussten noch sehr viel lernen. Es gab kein SAP-Know-how im AOK-System. Die SAP und die Firma IMG, mit der wir eine Partnerschaft hatten, haben uns an die Hand genommen und gezeigt, wie man mit SAP entwickelt und konzipiert. Wir waren damals Schuljungen, das ist heute natürlich ganz anders. Heute haben wir eine riesige SAP-Kompetenz und sind nicht mehr auf externe Unterstützung angewiesen. Damals wurde eine neue und komplexe Software-Infrastruktur geschaffen und gleichzeitig die Firma dazu aufgebaut. Und das alles musste auch noch in die AOK-Strukturen integriert werden. Eine große Herausforderung. Die Firma gab es schon, natürlich deutlich kleiner. Wir waren unter 100 Beschäftigte, ich habe die Personalnummer 76. Wir haben in jeglicher Hinsicht auf der grünen Wiese angefangen. Auch für die AOK war der Ansatz, eine Software nicht selbst zu entwickeln, sondern auf einer Standard-Software aufzusetzen, ganz neu. Hatte die AOK noch nie gemacht und die Skepsis war entsprechend groß.
 
Ein paar Monate vor dem offiziellen Start von SAM, dem SAP-AOK-Master, stoßen Sie Ende 2001 zur AOK Systems. Zur gleichen Zeit findet der legendäre erste SAM-Projekttag in Bad Godesberg statt. Wie war die Stimmung?
Es herrschte Aufbruchsstimmung. Und der Projekttag motivierte uns noch mehr.
 
Was war das Bahnbrechende an SAM?
Der Standard, die SAP-Basis. Es gab keine Diskussion mehr über die Technologie. Was auch bedeutet, die vorhandenen SAP-Funktionen müssen genutzt werden. Damit war weitgehend festgelegt, wie Masken und wie die Infrastruktur aussehen. Sehr viel war gesetzt, das konnte nicht mehr beeinflusst werden – allerdings mussten wir es auch nicht mehr entwickeln. Trotzdem war klar, dass es keinen einheitlichen AOK-Standard geben wird, da die AOKs schon damals unterschiedlich organisiert waren. Manche waren mehr zentral organisiert, andere dezentral. Die Herausforderung war, ein Verfahren zu entwickeln, das über Einstellungen, das sogenannte Customizing, alle Organisationsformen abdecken konnte.
 
Und die SAP war eine glückliche Entscheidung. Sie war damals schon groß – hätte aber ja auch im Laufe der Zeit pleitegehen können.
Die AOK war durch andere glücklose IT-Projekte ein gebranntes Kind. Aber die SAP war groß, ans Pleitegehen hat niemand gedacht. Aber es blieb ein gigantisches Projekt und man kennt einige SAP-Projekte, vor allem riesengroße, die nicht zum Ende gekommen sind. Insofern war SAM, inzwischen oscare®, ein absolutes Erfolgsprojekt.
 
Über die Jahre haben viele in der AOK das anders gesehen.
Es gab auch ganz dunkle Tage in dem Projekt. Es war einfach ein gigantisch großes Vorhaben mit gigantisch vielen Funktionalitäten und Benutzern. Und es gab Projektverzögerungen. Es sind laufend neue Anforderungen dazugekommen, Budgets wurden überschritten und ganz vieles war Neuland. Das hat allen Beteiligten riesige Anstrengungen abverlangt. Das Durchhaltevermögen hat sich gelohnt und am Ende ist alles rundgelaufen.
 
Und dass die SAP mit der AOK eine Branchenlösung entwickeln wollte, die auch anderen Krankenkassen offensteht, fanden auch nicht immer alle eine gute Entscheidung.
Aber so war es von Anfang an vereinbart. Und es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das, was SAM leistet, im Gesetzbuch steht. Das sind keine wettbewerbsdifferenzierenden Themen, sondern das ist die Basis der GKV.
 
Ende 2002 wird Klaus Schmitt Geschäftsführer. Wie hat er das Unternehmen und die Software geprägt?
Er ist eine unheimlich starke Persönlichkeit, die es gewohnt war, ihren Kopf und ihren Willen durchzusetzen. Er war aber auch aufgrund seines Lebenslaufes und Berufswegs äußerst gut mit den Themen vertraut und mit den Entscheidern in der AOK vernetzt. Er hat der Software seinen Stempel aufgedrückt und dafür gesorgt, dass die Entwicklung nicht ausfranst. Vor allem seine Kontakte zu den AOK-Vorständen waren dabei sehr wichtig.
 
Der allererste riesengroße Meilenstein war im Mai 2003 die Produktivsetzung von SAM 1.0 in Schwerin. Die Monate davor waren nicht einfach. Es gab eine legendäre Betriebsversammlung mit Rolf Hoberg, die Firma stand auf der Kippe.
Die Budget- und Zeitplanungen liefen aus dem Ruder. Im AOK-System gab es Diskussionen, dass es wieder ein Projekt sein könnte, das in den Sand gesetzt wird. Die erste Produktivsetzung war eine mehr als wackelige Angelegenheit – wie halt so oft beim allerersten Kontakt einer Entwicklung mit der Realität. Das war die härteste Klippe auf dem Weg. Rolf Hoberg hat aber einen wesentlichen Anteil daran, dass dieses Projekt ein Erfolg wurde.
 
Danach ging es aufwärts.
Ja. Es gab noch viele Probleme, aber SAM beziehungsweise oscare® stand nicht mehr grundsätzlich in der Diskussion. Wir mussten noch viele technische Hürden überwinden, denn die SAP-Standardlösung deckte viele Dinge doch nicht ab. Diese haben wir von Grund auf selbst und auch für die SAP entwickelt.
 
Wenige Monate später wird die BARMER Kunde. Wie wichtig war das?
Sehr wichtig. Die BARMER ist neben der AOK die größte GKV-Kundin und es ist die größte Krankenkasse, die oscare® betreibt. Die BARMER hatte damals Probleme mit der Aufsicht bezüglich ihres Beitragseinzugs. Sie musste dringend was tun und der Beitragseinzug war genau das Thema, mit dem wir bei SAM angefangen hatten und das schon fertig war. Und so hat sich die BARMER entschlossen, anstelle von Eigenentwicklungen auf oscare® zu setzen. Ich weiß, dass die BARMER das bisher nicht bereut hat.
 
Und dann begann die Phase der ständigen Rollouts und Pilotprojekte.
IDVS II musste ja abgelöst werden. Wobei die Rollouts neben der technischen vor allem eine organisatorische Herausforderung waren. Das waren riesige Orga-Projekte. Zehntausende von Anwendern mussten geschult werden. Es ging Schlag auf Schlag, Jahr für Jahr. Die Terminkalender waren immer dick gefüllt.
 
2004 tritt auch Rüdiger Bräuling als zweiter Geschäftsführer ins Unternehmen ein. Was hat er verändert?
Wir hatten die Probleme zu dieser Zeit angesprochen. Klaus Schmitt war mit der Softwareentwicklung mehr als beschäftigt. Wir brauchten jemanden für die Themen Verwaltung und Finanzen. Rüdiger Bräuling hat die Firma hier auf Kurs gebracht und gehalten.
 
Mit dem Projekt SAM 2.0 im Mai 2005 verabschiedet sich SAM. War oscare® nur ein neuer Name?
Ja, der Name SAM hatte sich bereits etabliert, aber wir konnten ihn nicht als Marke schützen lassen. Und so kam der Markenname „oscare®“ ins Spiel.
 
Im Rückblick: Was wurde bei der Entwicklung von SAM richtig gemacht?
Dass wir es nicht allein angegangen sind, sondern uns zwei starke Partner an Bord geholt haben. Vor allem die Wahl der SAP war ein ganz wichtiger Schachzug. Deren Software war die Basis und noch nicht perfekt und so konnten wir noch auf die Entwicklung der SAP-Standardsoftware Einfluss nehmen.
 
Und was lief nicht so gut?
Natürlich würden manche Teile heute anders entwickelt. Aber damals konnten diese gar nicht anders entwickelt werden, weil die dafür nötigen Werkzeuge noch nicht zur Verfügung standen. Die Technologie entwickelt sich ja laufend weiter. Und wir hatten ein „Moving Target“ mit sich laufend erweiternden Anforderungen. Und im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber insgesamt lagen wir schon ganz richtig. Das zeigt sich heute an der Stärke und der Marktstellung von oscare®.
 
 
Zur Person
 
Udo Patzelt begann nach einem Mathematikstudium 1979 bei der AOK Baden-Württemberg seinen Berufsweg. Er baute dort eine dezentrale IT-Systemwelt auf und war für ihre Anwendungen und ihren Betrieb verantwortlich. 2001 wechselte er zur AOK Systems. Dort begleitete und gestaltete er in verschiedenen Führungspositionen die Realisierung der Branchenlösung oscare®. Heute ist er im Managementteam für Strategieprojekte der AOK Systems verantwortlich.