Mehr Daten sorgen für bessere Lösungen
Marktforschung ist ein alter Hut. Auch im Gesundheitswesen setzen gerade Pharmafirmen schon lange darauf. Aber auch Krankenkassen, Verbände oder Institutionen können davon profitieren. Das Unternehmen EPatient Analytics hat sich auf die Marktforschung im Bereich des digitalen Gesundheitsmarktes spezialisiert. Geschäftsführer Alexander Schachinger spricht im Interview über den GKV-Markt und die Grenzen und Chancen der digitalen Anwendungen.
Corona ist eine Belastung für das Gesundheitswesen. Gleichzeitig ist es ein Beschleuniger der digitalen Veränderung. Wie bewerten Sie das?
Auf jeden Fall. Wir sehen in unserer Bevölkerungsbefragung, dem sogenannten E-Patient-Survey, konkret zwei Punkte. Die Nutzung der Online-Arztsprechstunde fängt an, exponentiell zu wachsen. Innerhalb eines Dreivierteljahres stieg die Nutzung von einem auf fünf Prozent der Bürger, die online sind. Auch die Nutzung von App- und Browserlösungen sowie Wearables, die eine diagnostische Funktion haben, ist stark gewachsen.
Kann man schon ein erstes kleines Fazit ziehen: Was lehrt uns die Krise über die digitale Gesundheitsversorgung?
Not macht erfinderisch und es funktioniert. Punkt. Trotz der klassischen gesundheitssystemtypischen Befindlichkeiten. Es war und ist untypisch, dass die Regulation der Praxis folgt – sonst ist es ja langwierig umgekehrt.
Was funktioniert?
Vieles, da ist ja nicht nur die Online-Arztsprechstunde. Es gibt derzeit ungefähr ein Dutzend Produktsegmente oder Innovationspfade. Es ist allerdings aber auch Quatsch, wenn die Politik und Selbstverwaltung glaubt, etwa mit der Online-Arztsprechstunde die Versorgungslücken auf dem Land schließen zu können. Da mangelt es schon an ausreichend schnellen Internetverbindungen für eine Videoübertragung.
Mal angenommen, wir hätten in der Fläche überall gutes Breitband und die ePA oder Telemedizin wäre schon Standard: Kämen wir besser durch die Pandemie?
Tendenziell ja. Risiko- oder gefährdete Gruppen hätten auf jeden Fall besser zu Hause versorgt werden können. In Dänemark haben Sie Ihren Corona-Test in weniger als 24 Stunden in Ihrer E-Akte. 250.000 Dänen nutzen pro Tag ihre Online-Gesundheitsakte – bei 5,2 Millionen Dänen. Hochgerechnet auf Deutschland wären das also etwa drei bis vier Millionen pro Tag. Bis wir auf diesem Stand sind, wird in Deutschland sicher noch einige Zeit vergehen.
Sie sagen, die Online-Sprechstunde ist deutlich angestiegen. Waren Sie überrascht, wie schnell manche Sachen auf einmal gingen?
Die Online-Arztsprechstunde ist eine Sache zwischen einer ambulanten Arztpraxis und ihren Patienten. Rein ökonomisch gesehen, also aus einer Perspektive eines Arztes als Einzelunternehmer, hat er in diesen Zeiten lieber diese Pauschale als keine. Allerdings muss man sich genau anschauen, wer diesen Service nutzt. In unseren Daten sehen wir die Antwort.
Und wer nutzt sie?
Unsere Marktforschungsdaten zeigen sehr genau basierend auf Postleitzahlen, nach Soziodemografie und Milieu, wer die Erstnutzer sind – und wer sie nicht sind. Wenn wir exemplarisch bei der Online-Arztsprechstunde bleiben, sind das die klassischen Erstverwendermuster: eher Akademiker, die in Städten wohnen. Viel wichtiger wäre aber, die vulnerablen Gruppen zu erreichen.
Wird sich das durch die ePA-Einführung ändern?
Wir haben bereits vor zwei Jahren in unserem Survey gefragt: Wissen Sie, was eine Online-Gesundheitsakte ist? Über 60 Prozent wussten es nicht. Leuten etwas anzubieten, was sie in ihrem Alltag überhaupt nicht wahrnehmen können, ist schwierig. Es braucht viel mehr Erklärungen – auf jeden Fall, um es in die Breite zu bekommen.
Genauso neu sind die DiGAs, die erstattungsfähigen Apps. Wie sieht es hier aus?
Dafür muss man zwei Seiten betrachten: die Nutzer und die Ärzte. Aus der Konsumforschung kennen wir den Marken-Dreiklang: Kenne ich Milka-Schokolade? Finde ich Milka-Schokolade gut? Kaufe ich Milka-Schokolade? Wie viele von 100 Ärzten kennen die zugelassenen DiGAs? Wie viele davon würden sie verordnen? Und wie viele tun es wirklich? Noch fehlt hier eindeutig eine zielgerichtete Kommunikation zur Aufklärung. Wir werden ab diesem Herbst zweimal jährlich einen Gradmesser für den DiGA-Verordnungsmarkt inklusive Postleitzahl-Region und Krankenkassenzugehörigkeit aufbauen.
Und wie sieht es auf Patientenseite aus?
Wir befragen zweimal im Jahr mit unserem E-Patient-Survey die Bürger. Das sind 5.000 Personen, quotiert an die deutsche Bevölkerung. Hier werden wir zukünftig auch nach den DiGAs fragen. Noch haben wir hier nur zarte erste Zahlen. Aber ich vermute, die Nutzung wird eher bezogen auf Regionen und Nutzergruppen unterschiedlich schnell geschehen.
Sie sind mit Ihrem Unternehmen schon länger im Gesundheitswesen unterwegs. Wenn Sie sich den GKV-Markt anschauen: Wo bieten sich da Chancen, wo oder wie werden Innovationen ausgebremst?
Wir haben 2010 angefangen, die ersten Kunden waren hauptsächlich Pharmafirmen und Medtechs. Inzwischen steigen die Anfragen aus dem Bereich der GKV, der PKV, der KVs sowie auch von Ministerien oder Fachgesellschaften. Da verändert sich gerade etwas. Wir ermöglichen unseren Kunden, eine digitale Versorgungsstrategie basierend auf Marktfakten zu entwickeln. Das ist für viele neu, obwohl gerade GKV-Kunden eigentlich gewohnt sind, von Anfang an mit ihren Versorgungsdaten zu arbeiten. Marktkennzahlen haben im gesetzlichen Gesundheitswesen aber lange keine Rolle gespielt, obwohl eigentlich erst auf ihrer Grundlage Modelle entwickelt werden können, die dann auch in der Praxis erfolgreich sein können. Beispielsweise sehen Sie in unseren Kennzahlen mit einem Klick, wie viele der 1,9 Millionen Herzinsuffizienzpatienten überhaupt per mobilem Endgerät erreichbar sind: nicht einmal jeder dritte. Wir nennen diese Größe dann „digitales Patientenvolumen“. Aber wie gesagt, das ändert sich. Arzneimittelhersteller kombinieren bereits seit vielen Jahren erfolgreich Marktforschungs- und Verordnungsdaten.
Können Sie kurz erklären, was Ihr Unternehmen Ihren Kunden genau bietet.
Wir beschreiben unabhängig und empirisch den digitalen Gesundheitsmarkt in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dazu betrachten wir beide Seiten: Angebot und Nachfrage. Das Angebot sind DiGAs, Start-ups oder digitale Gesundheitslösungen. Davon gibt es derzeit etwa 220 im deutschsprachigen Raum. Diese schauen wir uns ganz genau an: ihr Geschäfts- und Vertriebsmodell, die B2B- und B2C-Kennzahlen, wie sieht ihr digitales Versorgungsszenario aus? Machen sie Fernsehwerbung, werden die über den Arzt vertrieben und noch vieles mehr schauen wir uns an. Wir analysieren das genau. Alle diese Informationen stehen in unserer Datenbank, die unsere Kunden nutzen können.
Und wie sieht es auf der Nachfrageseite aus?
Im Rahmen unseres E-Patient-Surveys befragen wir seit vielen Jahren bisher einmal und ab sofort zweimal pro Jahr repräsentativ 5.000 Bürger zu ihrem Nutzungsverhalten, ihrer Kaufbereitschaft und vielen weiteren Aspekten rund um digitale Gesundheitsanwendungen. Diese Ergebnisse kombinieren wir mit Daten der Mediennutzungsforschung des Statistischen Bundesamts und soziodemografischen Daten. Unsere Kunden bekommen die Ergebnisse zugeschnitten auf ihre Bedürfnisse als Reports oder auch online als interaktive Datenbank zur Verfügung gestellt.
Zum Abschluss ein Blick in die Glaskugel: Wie sieht die digitale Versorgung in Deutschland im Jahr 2025 aus?
Es gibt gute und schlechte Nachrichten: Digitale Lösungen und Anwendungen werden sich weiterverbreiten – keine Frage. Aber das Grundproblem in Deutschland bleibt: Durch die Trennung der Sektoren und der Fragmentierung wird es leider zunehmend einen Flickenteppich an Lösungen geben. Einzelne Start-ups werden in Kooperationen mit Versorgern, Krankenkassen oder Pharmaunternehmen erfolgreich sein. Aber insgesamt werden auch 2025 noch viele Herausforderungen vor uns liegen.
Zur Person:
Dr. Alexander Schachinger ist Gründer und Geschäftsführer der EPatient Analytics GmbH. Er studierte Medienwirtschaft und Soziologie in Berlin und Toronto und promovierte zum Thema digitaler Patient. Danach arbeitete er in Pharma- und Digitalstrategieunternehmen, unter anderem bei Boehringer Ingelheim und Berlin Chemie. 2014 gründete er die EPatient Analytics GmbH.