Integriert und digital

Telemedizin, Patientenakte, integrierte Versorgung
Telemedizin, Patientenakte, integrierte Versorgung: Vom Gesundheitswesen in den USA kann Deutschland einiges lernen. Eine Gruppe von Fachleuten konnte sich davon bei der G+G-Studienreise nach Washington und Baltimore überzeugen. Doch längst nicht alles läuft gut im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und das nicht nur aufgrund der Coronakrise.
 
Am Arbeitsplatz von Anna Ye blinken an der Wand Tabellen und Grafiken in bunten Farben. Davor befindet sich ein Raum, voll mit eng aneinandergereihten Schreibtischen und Computermonitoren. Ein wenig geht es hier zu wie bei der NASA oder in einem internationalen Krisencenter. Und in der Tat handelt es sich um ein hochmodernes Kontrollzentrum. Doch was Ye und ihre mehr als 20 Kolleginnen und Kollegen beaufsichtigen, hat weder etwas mit Luft- und Raumfahrt noch mit der Energieversorgung zu tun. Im Judy Reitz Capacity Command Center (CCC) werden Patientenströme gesteuert. Der Ort: ein Großraumbüro im Johns Hopkins Hospital im US-amerikanischen Baltimore. „Alle Informationen bekommen wir in Echtzeit“, erläutert Ye den Teilnehmern der G+G-Studienreise, die an diesem Tag einen Blick hinter die Kulissen werfen dürfen. Wie sich auf diese Art und Weise ein Krankenhaus steuern lässt, stößt weltweit auf großes Interesse. Bisher isolierte administrative Prozesse werden im CCC zentralisiert. Im Hospital gilt Yes Einheit als „inneres Gehirn“.
 
Behandlung in Echtzeit
Rund um die Uhr werden die Angestellten an der „Wall of Analytics“ über die Aufnahme von Patienten in die Klinik informiert. Andere Monitore zeigen die Zahl sauberer und die Zahl schmutziger Betten, wieder andere die anstehenden oder gerade vollzogenen Entlassungen. Angezeigt wird auch, welche Patienten auf eine Aufnahme ins Johns Hopkins Hospital warten oder am selben Tag noch Termine haben, woher sie kommen und welche Art von Zimmer sie benötigen. Auf anderen Bildschirmen ist zu sehen, welche Krankenhauseinheiten zusätzliches Personal brauchen. Auch ist abzulesen, wenn Patienten nach einer Operation darauf warten, in ein anderes Zimmer oder auf die Intensivstation verlegt zu werden.
 
Ineffizienzen in diesen Bereichen gelten als Ursache für schlechtere Behandlungsergebnisse, höhere Verweildauern im Krankenhaus, eine geringere Patientenzufriedenheit und nicht zuletzt für vermeidbare Kosten. Verzögerungen bei der Verlegung von Schwerkranken auf Intensivstationen sind unter Umständen gar mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden. Durch das technische Know-how sollen schnell Entscheidungen zur Vermeidung oder Behebung personeller Engpässe ergriffen, Wartezeiten für Patienten verkürzt, Arbeiten koordiniert und letztlich Patientensicherheit und Effizienz gesteigert werden. Außer Echtzeitdaten gibt es auch Analysetools und Simulationen, wie die Belegung etwa in den nächsten drei Tagen aussehen wird. Der Erfolg gibt den Verantwortlichen recht: Verzögerungen bei der Verlegung aus dem Operationssaal nach einem Eingriff wurden um 70 Prozent reduziert. Aus der Notaufnahme wird Patienten jetzt 30 Prozent schneller ein Bett zugewiesen. Zudem werden rund 20 Prozent mehr Patienten schon vor Mittag entlassen.
 
Anna Ye an der Wall of Analytics
Eines der besten Krankenhäuser
Das Johns Hopkins Hospital in Baltimore gilt als eines der besten Krankenhäuser der Vereinigten Staaten und der Welt. Die Gründung des Lehrkrankenhauses im Jahr 1889 geht auf den 1873 verstorbenen Philanthropen Johns Hopkins zurück, dessen Gemälde im Foyer des ältesten Gebäudes des Krankenhauses hängt. Das Krankenhaus wiederum ist mit der Medical School der renommierten Johns Hopkins University verbunden, die jetzt in der Corona-Pandemie mit Expertise und weltweiten Zahlen von sich reden macht. Es handelt sich um einen modernen Krankenhauskomplex mit mehr als 1.000 Betten und zahlreichen Gebäudeflügeln. In den unteren Etagen wirkt das Hospital mit seinem modernen, leicht futuristischen Mobiliar, seinen spacigen „Information Desks“, seinen gläsernen Brücken, Kunstinstallationen, kleinen Cafés, Geschäften und Apotheken gar nicht wie ein Krankenhaus – wenn einem auf den Gängen nicht Menschen mit einem mobilen Tropf oder mit Verbänden entgegenkommen würden. Das Johns Hopkins Hospital ist das Flaggschiff des Gesundheitskonzerns. Insgesamt umfasst Johns Hopkins Medicine sechs Krankenhäuser und Spezialkliniken mit mehr als 2.600 Betten. 40.000 Vollzeit-Arbeitskräfte sind bei Johns Hopkins beschäftigt. Pro Jahr gibt es 115.000 Krankenhauseinweisungen und 360.000 Besuche in der Notaufnahme. 2,8 Millionen Menschen werden jährlich ambulant versorgt. Außerdem gibt es Gesundheitszentren an 40 Standorten.
 
Vorbildcharakter in vielen Bereichen
Fortschrittlich ist Johns Hopkins unter anderem in der Präzisionsmedizin. Hier erhielten die Reiseteilnehmer Einblicke in die Vorbeugung und Behandlung von Prostatakrebs. Und in der Abteilung „Clinical Research“ geht es darum, sich mit kleineren Kliniken zusammenzutun und mithilfe eines riesigen Datenpools vor allem onkologische Studien zu erstellen. Insgesamt sind mehr als 3.000 Teilnehmer für Studien eingeschrieben. Hochmodern ist der Gesundheitskonzern im Bereich Telemedizin. Bei der Kommunikation in Echtzeit befinden sich die Teilnehmer gleichzeitig, aber physisch getrennt in einem digitalen Raum, wie die Verwaltungsleiterin der zuständigen Abteilung, Rebecca Canino, erläutert. Ein Patient etwa kann von zu Hause mit einem Arzt sprechen oder ein Kranker in einer Klinik mit einem Spezialisten einer anderen Einrichtung in Kontakt treten. Eine asynchrone Variante bedeute dagegen, dass jemand etwas versendet und eine entfernte Person zu einem späteren Zeitpunkt antwortet – zum Beispiel der vom Hausarzt angefragte Kardiologe bei einem Herzproblem. Die dritte Form ist die Fernüberwachung von Patienten mit der Lungenkrankheit COPD, mit Diabetes oder Asthma. Sie werden einmal am Tag überprüft und können zu Hause eine bluetoothfähige Blutdruckmanschette oder Waage nutzen.
 
Doch auch im Krankenhaus selbst hat die Telemedizin Einzug gehalten. Der Tele-Sitter-Room ist ein enges Zimmer im Untergeschoss. Auf einem Monitor werden zwölf Patienten in ihren Betten beobachtet. Es handelt sich um Kranke, bei denen die Gefahr besteht, dass sie stürzen oder sie sich Schläuche herausziehen. Die Angestellte vor dem Bildschirm kann auch mit den Patienten über das Mikrofon sprechen. Geplant ist, eine solche Videoüberwachung für fünf Krankenhäuser gleichzeitig einzurichten. Dafür wird laut Canino ein neues Zentrum gebaut.
 
Das Judy Reitz Capacity Command Center (CCC) steuert Patientenströme in Echtzeit
Integrierte Versorgung auf dem Vormarsch
Das Besondere am Gesundheitssystem der USA sind viele Versuche einer integrierten Versorgung, bei der die ambulante und stationäre Versorgung vernetzt sind. Gemeinsam sei bei all diesen Modellen, dass die Patienten durch das Gesundheitssystem gesteuert würden, erläutert der Hamburger Gesundheitsökonom Jonas Schreyögg. So gibt es vollintegrierte Managed-Care-Organisationen wie zum Beispiel Kaiser Permanente. Zum anderen seien da sogenannte Accountable Care Organizations – kurz ACOs. In beide Organisationen bekamen die Teilnehmer der Studienreise Einblick: Kaiser Permanente mit Hauptsitz in Kalifornien und einer Dependance in Washington ist laut Managerin Prue Fitzpatrick das größte private integrierte Gesundheitssystem in den USA. Kaiser ist nämlich nicht nur Versicherer, sondern bietet auch selbst Gesundheitsleistungen an. Dabei sind alle beteiligten Leistungserbringer im ambulanten wie im stationären Sektor voll miteinander vernetzt. Schlüsselelement ist die elektronische Patientenakte. „Uns geht es um nahtlose Lösungen von der Grundversorgung über die einzelnen Fachrichtungen bis zu den Krankenhäusern. Alles ist integriert und für den Patienten einfach“, erläutert Fitzpatrick. Insgesamt hatte das 1945 vom Arzt Sidney Garfield und von dem Industriellen Henry John Kaiser gegründete Unternehmen Mitte vergangenen Jahres 12,3 Millionen Mitglieder, 218.000 Mitarbeiter und 23.000 Ärzte, 39 Kliniken und mehr als 700 Arztpraxen. Die Gesundheitsdienstleistungen sollen „hochwertig“ und „erschwinglich“ sein, betont Fitzpatrick. Im Sinne des „One-Stop-Shopping“ sollen viele Dienstleistungen unter einem Dach erbracht werden.
 
Die Qualität ist entscheidend
Bei den Accountable Care Organizations (ACOs) handelt es sich um Zusammenschlüsse von Leistungserbringern aus dem ambulanten wie stationären Sektor. Sie verpflichten sich in solchen Kooperationen gemeinsam gegenüber einer Versicherung, die Gesundheitsversorgung für eine bestimmte Patientenpopulation zu übernehmen.
Denn für Gesundheitsleistungen wird noch immer hauptsächlich nach dem Prinzip des „Fee-for-Service“ bezahlt, bei dem Leistungsanbieter jede erbrachte Leistung in Rechnung stellen können. Dies setzt den Fehlanreiz, die Leistungsmenge immer weiter auszuweiten. Doch in den vergangenen Jahren haben immer mehr qualitätsbasierte Komponenten in das US-Versorgungssystem Einzug gehalten. So erfolgt in den ACOs die Bezahlung aller Leistungen – von Operationen über Physiotherapie bis hin zur ambulanten Nachsorge – über Pay-for-Performance-Vereinbarungen, wie Gesundheitsökonom Schreyögg erläutert.
 
Dabei entscheidet vor allem die Versorgungsqualität über die Höhe der Zahlung. Das Ziel ist laut Center for Medicare and Medicaid Innovation (CMMI) eine „koordinierte, qualitativ hochwertige und kostengünstigere Versorgung“. Die Patienten haben bei diesem Modell eine bessere Kontrolle über die Versorgung. Die Leistungserbringer wiederum verfügen über bessere Informationen zur Krankengeschichte ihrer Patienten und nicht zuletzt über bessere Kontakte untereinander. Die ACOs zeigten die Möglichkeit auf, ein um die stationäre Versorgung erweitertes Ärztenetz mit ganz unterschiedlichen Leistungserbringern so zu strukturieren, dass Patienten eine qualitativ höherwertige Versorgung bekämen, sagt Schreyögg. Auch Robin Osborn, Direktorin und zuständig für internationale Gesundheitspolitik beim Commonwealth Fund, kann berichten, dass die mehr als 1.000 ACOs erste Erfolge zeigen. Es seien Einsparungen und einige Qualitätsverbesserungen zu erkennen, auch wenn die Kosteneinsparungen wohl nicht so hoch ausfielen wie zunächst erwartet.
 
Mehr Informationen:
Die Reportage erschien in einer längeren Fassung in der G+G, Ausgabe 05/2020. Ergänzt wurde die Geschichte um ein Interview mit Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jonas Schreyögg, der auch Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist.
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