Das fördert nicht die Qualität der gesundheitspolitischen Debatte

Keine Frage, die Gesundheitspolitik ist in Bewegung. Jens Spahn stößt viel an und bekommt noch mehr Gegenwind. Zu Recht? Kai Senf ist Geschäftsführer „Politik und Unternehmensentwicklung“ beim AOK-Bundesverband und ordnet die aktuellen Gesetzesvorhaben und Reformideen in die Interessenlage der GKV ein.

Gesundheitsminister Jens Spahn produziert Gesetze am laufenden Band. Das FKG, das DVG, die MDK-Reform, die Widerspruchslösung zur Organspende, das Pflegepersonalstärkungsgesetz und vieles mehr. Wie beurteilen Sie das Tempo und die Inhalte des Gesundheitsministers?
Die Schlagzahl ist beachtlich. Rein quantitativ ist die Zwischenbilanz beeindruckend: sieben abgeschlossene Gesetze, 15 bereits existierende oder angekündigte Gesetzentwürfe. Und keinem anderen Gesundheitsminister ist es in ähnlichem Umfang gelungen, Amt und Sachfragen so zu personalisieren und mit den eigenen Ambitionen zu verknüpfen. Der Minister wird von der Presse schon als „Blitz-Heiler“ bezeichnet. Er schiebt zweifellos wichtige Themen an, wie die Neuordnung der Notfallversorgung, die sektorübergreifende Versorgung, die Überprüfung der Krankenhausqualität oder die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Auch vor gesellschaftspolitisch kontrovers diskutierten Themen wie der Organspendebereitschaft oder der Impfpflicht gegen Masern schreckt er nicht zurück. Mit seinem Tempo stellt er sehr hohe Anforderungen an das Parlament. Dieses fühlt sich inzwischen nach eigenen Aussagen getrieben, da sie ohne den Beamtenapparat des BMG kaum eine Chance haben, sich genauso intensiv mit den Reformvorhaben auseinanderzusetzen.
 
Ist das eine positive Entwicklung?
Das fördert sicher nicht die Qualität der gesundheitspolitischen Debatte. Was seine Gesetze den Versicherten und Patienten tatsächlich an Mehrnutzen und höherer Versorgungsqualität bringen, ist noch vollkommen offen. Er selbst hat angekündigt, das als zentralen Gradmesser seiner Politik zu nehmen. Schnellere Termine bei Haus- und Fachärzten, 13.000 neue Pflegestellen gegen den Pflegenotstand – hinter alldem steht noch ein dickes Fragezeichen. Eines aber ist jetzt schon sicher: Die bisher verabschiedeten Gesetze und die geplanten Änderungen führen zu einem massiven Ausgabenschub in der GKV. Bislang sind bis zum Jahr 2022 Mehrausgaben der GKV von rund 29 Milliarden Euro zu erwarten.
Es wird Zeit für brauchbare Lösungen
Bundesgesundheitsminister Spahn will die Digitalisierung des Gesundheitswesens beschleunigen und schlägt den Weg ein, Kompetenzen an das Gesundheitsministerium zu ziehen. Unter anderem hat er die Mehrheitsverhältnisse bei der gematik zugunsten des Bundesgesundheitsministeriums geändert. Sinnvoll?
Zunächst einmal war es dringend geboten, dass es zu einer Veränderung kam. Die seit 15 Jahren andauernde Selbstblockade der Gesellschafter der gematik musste beendet werden, um die zentralen Elemente der Digitalisierung im Gesundheitswesen – die Telematikinfrastruktur und die elektronische Patientenakte – endlich Realität werden zu lassen. Ob es sinnvoll ist, dass das Bundesgesundheitsministerium nun die Mehrheit der Gesellschafteranteile von 51 Prozent hält, lässt sich derzeit abschließend noch nicht bewerten. Man hätte sich durchaus andere Konstruktionen vorstellen können – zum Beispiel in Anlehnung an den Bereich der Telekommunikation auch eine Regulierungsbehörde. Wichtig ist aber jetzt, dass in der gematik die richtigen Entscheidungen getroffen werden, um die weitere Vernetzung schnell und komplikationslos zu realisieren. Man darf nicht vergessen, dass die Finanzierung der Telematikinfrastruktur aus Beitragsgeldern erfolgt und die Versicherten endlich brauchbare Lösungen erwarten dürfen.
 
Kommt sicher: die ePA
Das Digitale-Versorgung-Gesetz sieht vor, dass Versicherten ab 2021 eine elektronische Patientenakte zur Verfügung stehen soll. Wie realistisch ist das Datum, zumal wesentliche Spezifikationen für den sicheren Zugriff auf die ePA nicht im DVG, sondern in einem weiteren Gesetz erfolgen sollen?
Die AOK-Gemeinschaft geht nach wie vor davon aus, dass unsere Versicherten die ePA ab 2021 nutzen können. Wir arbeiten weiterhin mit Hochdruck an der Erfüllung dieser gesetzlichen Aufgabe, denn der Zeitrahmen ist zweifelsohne sehr ehrgeizig. Richtig ist, dass der Gesetzentwurf zum DVG die Regelungen zur ePA nicht enthält und jetzt Eile geboten ist, um den Beginn ab 2021 nicht zu gefährden. Dabei sind insbesondere das Berechtigungsmanagement der Versicherten und die damit verbundene Datenhoheit und der Datenschutz wichtig. Ob diese Regelungen in ein eigenes Gesetz geschrieben werden oder in das DVG im Laufe der parlamentarischen Beratung integriert werden, hängt vom Arbeitstempo im BMG ab. Die Sicherung des Datenschutzes im Prozess der Digitalisierung ist ein hochkomplexes Thema. Das sehen wir auch im Entwurf des DVG: Hier ist der Datenschutz, zum Beispiel bei der Anwendung von Gesundheits-Apps, noch nicht definiert. Das kritisieren wir. Um Datenhoheit und -schutz für Versicherte und Patienten zu gewährleisten, sollte allerdings gelten: Sicherheit geht vor Schnelligkeit.
 
Die AOK hat stets darauf verwiesen, dass die Versicherten die Verfügungsmacht über ihre Daten haben und selbst entscheiden, wer welche ihrer persönlichen Behandlungsdaten sehen und verwenden darf. Ist das aus Sicht der AOK eine unabdingbare Voraussetzung bei Einführung der ePA ab 2021?
Ja, das ist eine zwingende Voraussetzung. Mit Beginn der Idee einer elektronischen Patientenakte im Jahr 2002 ist der Aspekt der Datenhoheit – Patienten bestimmen selbst, wer welche Daten zu welchem Zeitpunkt sehen darf – ein zentraler Bestandteil der zunächst elektronischen und jetzt digitalen Information und Kommunikation in Versorgungsprozessen gewesen. Es gibt keinen guten Grund, mit der lange erwarteten Realisierung der ePA davon abzuweichen. Im Gesundheitswesen dürfen persönliche Daten nicht zur Währung werden, wie es heute bei nahezu jeder privaten digitalen Anwendung der Fall ist. Gesundheitsdaten sind besonders sensible und damit schutzbedürftige Informationen. Die AOK-Gemeinschaft legt darauf einen besonders hohen Wert und mahnt den Gesetzgeber an, entsprechende Regelungen zur Sicherung der Datensouveränität für Versicherte und Patienten bei Einführung der ePA ab 2021 zu verankern.
 
ePA nicht flächendeckend möglich
Fast jeder Bundesbürger und Versicherte nutzt heute ein Smartphone. Gehen Sie davon aus, dass die Versicherten intuitiv mit einer ePA umgehen können?
Das hängt zum einen natürlich stark von der Gestaltung der ePA und dem Zugang ab. Der Zugriff auf die ePA über mobile Endgeräte wird vermutlich anders aussehen als der Zugriff in der Arztpraxis oder vom PC daheim. Zum anderen sollten wir uns darüber bewusst sein, dass nicht jeder, der ein Smartphone besitzt, bei der Bedienung auch das volle Potenzial der vorhandenen Möglichkeiten ausschöpfen kann oder will. Obwohl die voranschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen derzeit in aller Munde ist, gehen wir nicht davon aus, dass alle Menschen digitalaffin sind oder es werden wollen. Das spiegelt sich auch in unserer Versichertengemeinschaft wider. Naturgemäß sind es eher die jüngeren Versicherten, die sich digitale Anwendungen wünschen. Es gibt aber auch immer noch diejenigen, die nach wie vor sehr gut im analogen Leben zurechtkommen.
 
Das bedeutet?
Diese dürfen wir bei der Weiterentwicklung der digitalen Möglichkeiten im Versorgungsgeschehen und im Serviceangebot der gesetzlichen Krankenkassen nicht vergessen. Die AOK-Gemeinschaft geht diesen dualen Weg mit dem Aufbau eines digitalen Gesundheitsnetzwerkes zur Verbesserung der Information und Kommunikation mit Versicherten und Leistungserbringern und einem gleichzeitig sehr dichten Netz an Geschäftsstellen, in dem die persönliche Beratung und Betreuung der Versicherten im Vordergrund stehen.