Europäischer Grand Slam
Der elektronische, grenzüberschreitende Datenaustausch zwischen den Gesundheitspartnern von EU-Mitgliedstaaten stellt nach wie vor eine große Herausforderung dar. Tausendfach, ja millionenfach wird Papier ausgedruckt, kuvertiert und versendet. Noch immer füllen sich unzählige Räume und Archive mit Aktenordnern. Mit dem EU-weiten Projekt „EESSI“ kündigt sich ein nächster Meilenstein in der standardisierten Kommunikation zwischen den 28 EU-Mitgliedsstaaten an. Sven Schulze, Gesamtprojektleiter „Nationale Anbindung EESSI“ (kurz: NAE) vom GKV-Spitzenverband, erläutert das Vorhaben.
Was muss sich der Leser unter dem Kürzel „EESSI“ vorstellen?
EESSI steht für Electronic Exchange of Social Security Information. Dies ist ein IT-Standard – und daraus abgeleitet ein einheitliches, organisations-übergreifendes IT-System – der Europäischen Union, mit dem Sozialversicherungsträger der EU-Mitgliedsstaaten schneller und sicherer Informationen und Gesundheitsdaten austauschen können. Es geht auch um eine IT-Plattform, die bei allen Mitgliedsstaaten bis zum 30. Juni 2019 implementiert sein soll, damit dann alle Beteiligten die Daten darüber transferieren können.
Was war die Ausgangssituation für EESSI?
Derzeit läuft der Austausch von Sozialversicherungsdaten größtenteils noch papiergebunden ab. Das ist sehr ressourcenintensiv. Über viele Jahre hat die EU-Kommission einen Standard entwickelt, der im Jahre 2009 in einer EU-Verordnung festgeschrieben und seither weiter konkretisiert und kodifiziert worden ist. Durch den Aufbau des EESSI-Systems mit seinen Schnittstellen zu den jeweiligen Mitgliedsländern soll der Datenaustausch zukünftig ausschließlich elektronisch erfolgen. Zum Juni 2017 war nun der Zeitpunkt gekommen, dies ganz konkret zu beauftragen und mit der Umsetzung zu beginnen.
Haben Sie ein Beispiel für die Problematik?
Ich fahre nach Frankreich in den Urlaub, breche mir dort ein Bein und gehe zum Arzt. Jetzt bin ich aber in Deutschland versichert und der Arzt muss die Behandlung abrechnen. Über eine von ihm gewählte französische Krankenkasse. Diese schreibt nun eine Rechnung, reicht diese über die französische Verbindungsstelle an eine deutsche Verbindungsstelle ein, und hier wird auf nationaler Seite die richtige Krankenkasse ermittelt, bei der ich versichert bin. Was passiert dort grob im Einzelnen? Bei der deutschen Verbindungsstelle, der DVKA „Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland“ (einer Abteilung des GKV-Spitzenverbandes) mit Sitz in Bonn, werden die Rechnungen eingescannt, IT-seitig erfasst und dann an die zuständige Krankenkasse weitergeleitet. Diese prüft wiederum, ob für mich ein Versicherungsverhältnis vorliegt und ich einen Anspruch auf die in Frankreich erbrachte Leistung habe. Diese Informationen fließen zurück an die DVKA, über diese wieder an die französische Verbindungsstelle und zur französischen Krankenkasse, die die Leistung dem Arzt vorab bezahlt hatte. Das wird seit Jahren so praktiziert und ist ein eingespielter Ablauf. Die Abwicklung dieser Vorgänge erfolgt jedoch größtenteils auf dem Postweg und ist deshalb natürlich sehr aufwendig. In Summe sprechen wir hier von ca. 10 Millionen ankommenden und abgehenden Datensendungen pro Jahr, allein aus deutscher Sicht. Eine wie durch EESSI definierte, elektronische Umsetzung trägt hier auch der fortschreitenden Globalisierung Rechnung, aufgrund derer sich viele Menschen nicht nur privat, sondern auch beruflich häufig im Ausland bewegen und es dort dann auch häufiger zu einer Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen vor Ort kommt. Aber dies ist nur ein Beispiel aus einem der 67 definierten Geschäftsprozesse.
Es gibt auch eine EU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialversicherungssysteme. Gibt es da eine Verbindung zum EESSI-Projekt?
Die gibt es. EU-weit existieren einheitliche Vorschriften zum Schutz der Sozialversicherungsansprüche, die ich als EU-Bürger habe, wenn ich mich innerhalb Europas aufhalte. Damit ist die entsprechende EU-Verordnung die juristische Basis, auf deren Grundlage man die neue Plattform nun über alle Länder ausrollen kann.
Blicken wir vom EU-weiten Vorhaben nun konkret auf die deutschen Aktivitäten. Wo laufen diese zusammen?
Zur nationalen Umsetzung hat der GKV-Spitzenverband ein Projekt ins Leben gerufen, das „Nationale Anbindung EESSI“ oder kurz gesprochen „NAE“ heißt. Das Projekt wird alle notwendigen Aktivitäten zum Aufbau der nationalen Infrastruktur für den grenzüberschreitenden elektronischen Datenaustausch in der Sozialversicherung sowie die Anbindung an die nationalen Systeme koordinieren und steuern.
Mit welchen Aufgaben ist man beschäftigt und vor welchen Herausforderungen steht das Projekt?
Zunächst einmal müssen natürlich alle Schritte in Abstimmung mit den EU-Mitgliedsstaaten erfolgen, daraus national entsprechende Vorgaben abgeleitet werden, die dann auch die Basis für die Implementierung bilden. Hierzu haben wir jeweils ein Teilprojekt „EESSI International“ sowie „EESSI Nationale Vorgaben“ eingerichtet. Dann erfolgt der Aufbau und Betrieb der nationalen Infrastruktur zur Anbindung an die bestehenden Datenaustauschverfahren und auch an die Datenannahme- und -verteilstellen der Krankenkassen. Ein weiterer Punkt ist der Aufbau einer nationalen, sogenannten Zentralen Teststelle: Damit stellen wir sicher, dass alle nationalen Träger – d. h. aktuell 110 Krankenkassen, die beteiligten Softwarehersteller sowie die Datenannahme- und -verteilstellen – auf Basis einheitlicher Testfälle und im Rahmen einer zentralen Testkoordination „an einem Strang ziehen“. Funktioniert das, was wir hier national umsetzen, dann folgt natürlich noch der vorletzte Schritt: ein Datenaustausch- und Prozess-Test mit internationalen Organisationen.
Das klingt nach einer herausfordernden Aufgabe.
Da haben Sie recht! Dies bedeutet Tag für Tag immer wieder, auch neue, zum Teil unvorhergesehene Herausforderungen gemeinsam im Projektteam und auch abgestimmt mit unseren drei projekteigenen Gremien zu meistern! Wir haben das Ziel und die Vorgabe, den Anschluss der deutschen Träger an die EESSI-Plattform umzusetzen. Vonseiten der EU sind zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht alle wesentlichen Vorgaben finalisiert, z. B. gibt es noch offene Fragen hinsichtlich des zu verwendenden Zeichensatzes oder des Datenmodells. Die Klärung derselben ist durch das Projekt bei den entsprechenden Gremien auf EU-Ebene weiter voranzutreiben. Nichtsdestotrotz müssen die Arbeiten auf nationaler Ebene voranschreiten. Jeder Staat muss aufgrund der einheitlichen Zielvorgaben für sich festlegen, wie er das Ziel – zum 30. Juni 2019 produktionsreif zu sein für alle 67 definierten Geschäftsprozesse – erreicht. Die Vorgaben beinhalten zum Beispiel, wie eine Datensendung aussieht und was sie enthalten muss. Einfache Angaben sind z. B. die Angabe des Adressaten. Aber auch die Angabe, in welchem Datenformat der Austausch erfolgen soll, ist wichtig und sozusagen im Umschlag der Sendung enthalten. Zum Beispiel: Werden PDF-Dateien, Excel- oder XML-Dateien versendet? Dies ist eindeutig vorgegeben mittels einer auf EU-Ebene abgestimmten Dokumentenstruktur und entsprechend definierten Dokumenteninhalten.
Wer ist noch alles an dem Projekt beteiligt?
Neben dem GKV-Spitzenverband in seiner steuernden Funktion und der DVKA in Bonn als Abteilung des GKV-Spitzenverbandes sind alle Krankenkassen bzw. ihre Spitzenorganisationen, die IT-Dienstleister der Kassen wie die AOK-Systems und BITMARCK sowie die ITSG beteiligt. Letztgenannte ist für den Aufbau der nationalen Infrastruktur und der Zentralen Teststelle zuständig.
Ist das Projekt ein Durchbruch in der Kommunikation zwischen den EU-Mitgliedsstaaten?
Grundsätzlich kann man sagen, dass die EU-Mitgliedsstaaten durch dieses Projekt auf Ebene des Datenaustauschs näher zusammenrücken. Ein recht großer Meilenstein wird sein, dass durch die Einführung von EESSI die Datensendungen im Bereich der Sozialversicherung standardisiert werden. Und auf dieser Basis kann dann der Datentransfer ab Anfang Juli 2019 effizienter und mit weniger Aufwand erfolgen. Ein wichtiger Schritt für die Menschen in Europa? Schwer zu sagen.
Was passiert jetzt als Nächstes?
Die fachlichen Vorgaben und Prozessbeschreibungen werden finalisiert. Das sollte noch im ersten Quartal 2018 abgeschlossen sein. Auf dieser Basis müssen dann die Krankenkassen bzw. ihre IT-Dienstleister die Vorgaben und neuen Soll-Prozesse entsprechend konzipieren und implementieren. Das wird in unterschiedlichen Takten und Zeitfenstern erfolgen, die abhängen von den individuellen Release-Zyklen bei den einzelnen Häusern. Spätestens ganz am Ende muss dann aber in einer konzertierten Aktion gemeinsam getestet werden.
Gibt es eine Art „Big Bang“ mit einer Stichtagseinführung?
Wir alle hoffen: Nein! Sicher ist es aber noch nicht. Es wurden 67 Geschäftsvorfälle durch die EU für den Bereich Krankenversicherung definiert, zu denen es rund 4.000 Dokumente gibt, die in allen Organisationen implementiert, mithilfe von ca. 3.000 Testfällen getestet und anschließend in allen aktuell 110 Krankenkassen ausgerollt und in Betrieb genommen werden müssen. Das wird in einem sinnvollen, praktikablen Stufenmodell erfolgen, das sich an einer durch das Projekt vorgenommenen Priorisierung der Geschäftsprozesse (Business Use Cases = BUCs), aber auch an den unterschiedlichen Releasezyklen der Kassen bzw. Kassendienstleister orientiert. Neben den 28 Mitgliedsstaaten stimmen wir uns innerhalb Deutschlands außerdem auch kontinuierlich mit anderen Risikoträgern ab (u. a. Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung sowie mit sonstigen Sozialversicherungsträgern).
Können Sie uns einen Einblick in die Spannbreite der teilnehmenden Länder geben, was die Einführung dieser Plattform anbelangt?
Auf der einen Seite gibt es in der EU kleinere Staaten wie zum Beispiel die baltischen Länder oder etwa Malta, die eine geringere Komplexität haben oder auch keine großen IT-Bestandssysteme, wie das jedoch hier in Deutschland der Fall ist. Da ist eine Einführung eines solchen Systems naturgemäß deutlich einfacher. Dann gibt es aber auch Staaten wie zum Beispiel Frankreich, die zentral organisiert sind. Und es gibt auch Staaten mit einer ähnlichen Komplexität wie in Deutschland, z. B. Österreich. Es ist ein sehr sportliches und ambitioniertes Ziel, aber wir setzen gemeinsam alles daran, um im vorgegebenen Zeitplan das Projekt umzusetzen.
Zur Person
Der berufliche Weg von Sven Schulze begann im Jahr 2010 im operativen Controlling bei der CURA Unternehmensgruppe, einem Konzern im Bereich Pflegeheime und -dienste. Weitere Stationen seines Werdegangs umfassten Tätigkeiten im Personalcontrolling bei der KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft AG sowie im Finanzcontrolling der Berliner Stadtreinigung. Im Sommer 2016 wechselte Herr Schulze zum GKV-Spitzenverband in Berlin und übernahm dort zunächst das Beteiligungscontrolling. Darüber hinaus unterstützt er den Vorstand bei den aktuellen Großprojekten und der damit zusammenhängenden strategischen Weiterentwicklung der DVKA in Bonn. Zum 16. November 2017 wurde er dann auch in die Gesamtprojektleitung des Projektes „Nationale Anbindung EESSI“ berufen und verantwortet zusammen mit einem Co- und vier Teilprojektleitern des GKV-Spitzenverbandes, der DKVA und der ITSG das Projekt „Nationale Anbindung EESSI“.