Zwillinge sind in der Industrie längst etabliert

Ein digitaler Zwilling ist im Grunde wie die Beatmungspuppe im Erste-Hilfe-Kurs – nur viel besser: Beide sind Stellvertreter bei der Suche nach der besten Lösung. Was an der Puppe konkret geübt wird, passiert ähnlich im virtuellen Raum: Ein Zwilling bildet die Realität möglichst naturgetreu ab und nutzt dabei so viele aktuelle Daten zu potenziellen Einflussfaktoren wie möglich.

Das Konzept des digitalen Zwillings hat sich in der Wirtschaft bereits an vielen Stellen durchgesetzt: Kein Autohersteller fährt mehr echte Autos mit Crash-Test-Dummies an die Wand. Das geschieht längst im virtuellen Raum und spart so Zeit und Ressourcen. In digitalen Fabriken wird heute die gesamte Wertschöpfungskette eines geplanten Produktes modelliert, bevor es in die Herstellung geht. Das gilt fürs Handy ebenso wie für Waschmaschinen. Zum echten digitalen Zwilling werden solche Konzepte, wenn sie laufend mit aktuellen Daten gespeist werden: Die virtuelle Fabrik, die aus der Herstellung in Echtzeit Produktionsdaten erhält, kann Fehler und Engpässe schnell erkennen und im besten Fall sogar vermeiden. Michael Baumgärtner, Leiter Produktsuitemanagement der AOK Systems, erläutert dazu: „Grundsätzlich ist die Technologie vorhanden, den Digital Twin einer Krankenkasse zu erstellen. Das könnte zumindest für Teilbereiche in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Weg sein, die eigenen Prozesse weiter zu verbessern und die Automatisierung zu erhöhen. Eine solche Lösung können wir allerdings nicht aus der Tasche ziehen – das wäre ein großer Schritt für alle Beteiligten.“


Vorausschauen wird machbar

Ein Praxisbeispiel sind die Mitarbeitenden, die bereits die Schiffsreparatur im virtuellen Raum trainieren, während das Original noch in der Werft entsteht. Die Zwillings-Technologie lässt sich auch auf bestehende Systeme übertragen, wenn zum Beispiel Flaschenhälse in Lieferketten schnell aufgespürt werden. Durch Echtzeitdaten lassen sich Verknappungen besser vermeiden, eine vorausschauende Planung wird einfacher. Viele nutzen im Alltag einen digitalen Zwilling, ohne sich darüber bewusst zu sein: Google Maps. Der Dienst ist weit mehr als eine digitale Landkarte: Durch viele Millionen Echtzeitinformationen der Nutzer entsteht ein aktuelles Abbild der Verkehrslage und der Routenplaner kann die Fahrtroute intelligent anpassen. „So wie Google die Endanwenderin oder den -anwender als Einzelperson nutzt, um ein digitales Abbild von ihm zu erstellen, so könnten wir grundsätzlich von jedem Versicherten einen digitalen Zwilling anlegen. Das geht noch nicht per Knopfdruck, kann aber in Zukunft zu einer besseren und individuelleren Versorgung beitragen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz können viel klarer alle Optionen für den Einzelnen abgewogen werden. Dazu gibt es bereits sehr interessante Forschungsprojekte.“


Datenhunger der Zwillinge

Eines ist allen digitalen Zwillingen gemein: der große Datenbedarf. Gerade im Gesundheitswesen, in dem das Konzept ebenfalls Fuß fasst, ruft das natürlich den Datenschutz auf den Plan. Denn personenbezogene Daten sind gewissermaßen das Grundnahrungsmittel eines digitalen Zwillings. Lösungen im Gesundheitswesen stehen daher stets vor zwei Herausforderungen: das komplexe Konstrukt Mensch realitätsnah abzubilden, sodass intelligente Lösungen anwendbar werden, und die generierten Daten sicher zu verwalten.


Mehr Sicherheit in der Therapie

Auch in der medizinischen Versorgung bieten sich viele Möglichkeiten. Digitale Zwillinge können beispielsweise die Sicherheit operativer Eingriffe verbessern, indem sie vorher 3D-Einblicke ermöglichen. Umso detaillierter die Funktionsweise von Organen und Stoffwechselkreisläufen virtuell abgebildet werden kann, desto besser können sie verstanden werden. Ist das virtuelle Abbild dann auch noch patientenspezifisch individualisiert, können Therapien maßgeschneidert, Medikamente wirksamer eingesetzt und Nebenwirkungen reduziert werden.


Innovationsprojekte in Deutschland

Sieben Fraunhofer Institute präsentierten Anfang 2022 erstmals einen Prototyp für einen digitalen Zwilling. Im Projekt Med²icin werden personenbezogene Gesundheitsinformationen mit Parametern aus Populationsstudien und Daten spezifischer Krankheitsbilder anderer Betroffener abgeglichen. Klinische Leitlinien und gesundheitsökonomische Aspekte fließen ebenfalls ein. Dieses ganzheitliche und digitale Patientenmodell wird nun in Zusammenarbeit mit dem Uniklinikum Frankfurt am Beispiel chronischer Darmerkrankungen getestet. Durch die Auswertung umfassender Daten und die individuelle Analyse soll die bestmögliche Therapie für jeden Einzelfall gefunden werden.
Ärztinnen und Ärzte am Münchner Klinikum Rechts der Isar wiederum arbeiten mit einem Unternehmen zusammen, das sich auf Softwareentwicklung für biomechanische Simulation und lernende Maschinen spezialisiert hat. Das gemeinsame Ziel: einen digitalen Zwilling der Lunge zu entwickeln. Mit dessen Hilfe soll eine individuelle Beatmungstherapie für Patient:innen entwickelt werden, die am akuten Atemnotsyndrom erkrankt sind. Lungenschäden durch Beatmungsgeräte könnten so reduziert werden.


Datensicherheit durch Confidential Computing

Der digitale Lungenzwilling liegt als Prototyp in einer öffentlichen Cloud und könnte so künftig Kliniken einfach verfügbar gemacht werden. Um sensible Daten von Patient:innen zu schützen, setzen die Fachleute auf Confidential Computing: Vertraulichkeit entlang der gesamten Verarbeitungskette. Das heißt, die Informationen werden beim Übertragen und Speichern verschlüsselt und in einem besonders geschützten Bereich des Prozessors, der sogenannten Enklave, ausgeführt. Was für die Lunge bald gelingen kann, soll in Zukunft für den ganzen Menschen möglich werden: der digitale Zwilling des ganzen Körpers. Umso mehr individuelle Daten über Patient:innen und ihren Gesundheitszustand verfügbar sind, desto präziser können nicht nur Aussagen über die aktuelle Gesundheit getroffen werden. Auch Früherkennung und Prävention könnten neue Dimensionen der Wirksamkeit erlangen. Baumgärtners Fazit: „Die weitere Entwicklung von Digital Twins im Gesundheitswesen erfolgt klar in einem Spannungsfeld: auf der einen Seite die maßgeschneiderte Abbildung eines Versicherten, damit die Versorgung immer besser wird. Auf der anderen Seite die Angst vor dem gläsernen Patienten, der wir mit guten Konzepten zur Datensicherheit begegnen müssen.“


Autor/in: Brigitte Breuer, Spezialist Marketing/Kommunikation