„Zum Teil absurd hohe Preise“

In Sachen Finanzierung muss sich das deutsche Gesundheitssystem nicht hinter anderen verstecken. Trotzdem sind die Preise für Arzneimittel und neuerdings für die DiGAs jenseits von Gut und Böse, sagt Gesundheitsökonom Simon Reif, der das Gesundheitswesen effizienter machen will. Corona hat aber auch gezeigt, dass das System deutlich robuster ist, als viele gedacht haben.

Warum wird das deutsche Gesundheitswesen immer teurer?

Das hat mindestens drei Gründe. Einer ist sehr schön: Es leben jetzt mehr Leute in Deutschland, die zudem immer älter werden und mehr Zeit haben, Gesundheitsleistungen zu konsumieren. Dieser demografische Faktor ist für ungefähr ein Drittel des Anstiegs der Gesundheitskosten verantwortlich. Ein weiteres Drittel entsteht durch Preisanstiege, insbesondere bei den Medikamenten. Und ein Drittel geht zurück auf unser Konsumverhalten und das Verordnungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte. Wir nehmen Gesundheitsleistungen jetzt ganz anders in Anspruch als vor zwanzig Jahren.


In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 411 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben, das sind zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so viel wie nirgends in der EU. Ist unser Gesundheitssystem denn auch entsprechend effizient?

Es ist schwer zu messen, wie gut ein Gesundheitssystem ist. An welchen Kriterien denn? Man könnte sich die Lebenserwartung anschauen – sie ist nicht deutlich höher als in anderen Ländern, die weniger ausgeben. Daher liegt die Vermutung nahe, dass wir Einsparpotenziale im Gesundheitswesen haben. Davon gehe ich auch aus. Vergleichen wir aber die deutschen Gesundheitsausgaben relativ am Bruttoinlandsprodukt mit der Schweiz oder den USA, dann fahren wir gar nicht so schlecht.


Wie haben Sie denn das deutsche Gesundheitswesen in der Coronakrise erlebt – war es robust und gut aufgestellt?

Wir haben vor allem gesehen, wie die unterschiedlichen Akteure dann doch sehr gut zusammenarbeiten können und auch sehr agil auf neue Situationen reagieren. Zum Beispiel in den Krankenhäusern, wo Kapazitäten umgeplant werden konnten. Das Gesundheitssystem hat eine sehr gute Leistung erbracht.


Was würden Sie in Bezug auf Transparenz und Effizienz sofort am deutschen Gesundheitssystem ändern?

Wenn es diese eine gute Intervention gäbe, dann hätten wir sie schon umgesetzt. Mich beschäftigt die Kompetenzverteilung auf Bundes- und Länderebene. Muss es wirklich unterschiedliche Arten der Krankenhausplanung in unterschiedlichen Bundesländern geben? Und warum hat ein Land wie Baden-Württemberg seit 2010 keinen Krankenhausplan mehr gemacht? Da braucht es mehr Transparenz. Dann könnte man auch besser planen. Gerade der stationäre Sektor ist sehr teuer – da gibt es Reformbedarf.


Manche denken über eine Bürgerversicherung nach oder zumindest die Egalisierung der beiden getrennten Krankenversicherungssysteme. Würden Sie das für eine Möglichkeit halten, Einsparpotenziale zu heben?

Die wissenschaftlichen Ansichten gehen da stark auseinander. Hinsichtlich der Selektion von guten Risiken besteht im Allgemeinen die Sorge, dass Leute mit niedrigem Erkrankungsrisiko und niedrigen erwarteten Krankheitskosten, wenn sie können, alle in die PKV gehen und diese Leute dann für die Mischkalkulation der GKV fehlen. Aber die empirische Datenlage zeigt nicht eindeutig, ob das wirklich ein Problem ist. Der zweite Punkt ist: PKV-Versicherte sind in den allermeisten Fällen sehr gut verdienende Leute. Kämen sie alle in die GKV, könnte man die Beiträge sicherlich um einige Punkte senken. Das kann man mal machen, aber den Trend zu steigenden Gesundheitskosten wird das nicht aufhalten. Nach meinem Dafürhalten wäre es vor allem eine gute Idee, wenn die große Gruppe der Beamten aus der PKV in die GKV gehen könnte. Das staatliche Beihilfesystem ist politisch gewollt, aber es ist sicher nicht das überlegene System der Gesundheitskostenfinanzierung.


In Forschung und Lehre gibt es immer Ideale, was würden Sie vorschlagen, damit die Beitragssätze nicht ins Unendliche steigen?

Ins Unendliche steigen werden sie auf keinen Fall. Die Welt wäre trist, wenn wir alle unser Geld nur für Gesundheitsleistungen ausgeben. Wir haben sehr hohe Kosten, weil wir unnötige Operationen durchführen und weil wir Sachen stationär behandeln, die in anderen Ländern ambulant funktionieren. Da lässt sich Geld einsparen. Es heißt oft, Digitalisierung sei eine Lösung. Es gibt sicherlich digitale Tools, die uns helfen, die Patientinnen und Patienten besser durch das Gesundheitssystem zu steuern. Aber das kann auch teuer werden, wie wir an den digitalen Gesundheitsanwendungen, den DiGAs, sehen. Grundsätzlich sind sie ein sehr innovativer Weg. Das Problem sind die absurd hohen Herstellerpreise, die im ersten Jahr vergütet werden. Wir brauchen einen Preisfindungsmechanismus, der für Unternehmen klare Anreize schafft, aber auch Kosten und Nutzen ins Verhältnis setzt.


Können durch die DiGAs chronisch Kranke oder aber auch präventiv andere Nutzer zu besserer Gesundheit angehalten werden? Oder besteht nicht auch die Gefahr, dass dann noch mehr Gesundheitsleistungen bezahlt werden müssen?

Messen chronisch Kranke regelmäßig zu Hause ihre Werte, dann kann dadurch ein Arztbesuch angestoßen werden, wenn sich die Werte verändern, und nicht, weil im Abrechnungsturnus ein Besuch fällig ist. Das kann natürlich dazu führen, dass Betroffene öfter zum Arzt gehen. Es kann aber auch andersrum sein, dass sie, weil sie regelmäßig ihre Parameter messen, besser über ihren Gesundheitszustand Bescheid wissen und deshalb auch besser mit ihrer Krankheit umgehen. So können Arztbesuche und auch schlechte Verläufe vermieden werden, die zu einer stationären Behandlung führen. Ich sehe da viel Potenzial. Wir sollten keine Angst davor haben, wenn bisher unentdeckte Sachen auf einmal behandelt werden. Wir müssen uns aber schon und insbesondere bei digitalen Gesundheitslösungen fragen, wie viel sie wert sind.


Ist die Politik eigentlich gut beraten? Greift sie genug auf die Expertise aus Forschung und Wissenschaft zurück oder lässt sie sich zu sehr von Interessen und politischen Abwägungen leiten?

Grundsätzlich gibt es gute Mechanismen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in den politischen Prozess einfließen. Sei es der Sachverständigenrat Gesundheit, der auch ein sehr gutes Gutachten zur Digitalisierung im Gesundheitswesen erstellt hat, oder das Beratergremium zur Coronakrise, in dem sich Gesundheitsökonomen führend um das Problem gekümmert haben, wie die Krankenhausfinanzierung funktionieren soll, wenn wir Betten freihalten wollen. Es gibt allerdings Felder, bei denen man nicht auf die Wissenschaft hören möchte. Da ist die Wissenschaft teilweise auch selber schuld. Die Krankenhausstruktur ist so ein Beispiel. Die alle ein, zwei Jahre auftauchenden Vorschläge, die Hälfte aller Krankenhäuser zu schließen, sind nicht komplett fundiert und eher auf Showeffekte ausgelegt als auf konstruktive Lösungen. Was die Krankenhausstruktur angeht, müssen Diskussionen in den Regionen geführt werden. Deswegen wäre auch eine transparente Krankenhausplanung so wichtig.


Zur Person

Simon Reif leitet seit Januar 2021 die Projektgruppe „Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik“ am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW) in Mannheim. Er hat in Erlangen, München und im britischen Hull Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert. Nach seiner Promotion zum Angebot medizinischer Leistungen arbeitete er als Politik- und Start-up-Berater. Seine Forschungsinteressen sind verhaltensökonomische und institutionelle Einflussfaktoren beim Angebot medizinischer Leistungen. Aktuelle Forschungsprojekte beschäftigen sich mit Strategien zur Evaluation digitaler Gesundheitsanwendungen sowie dem Design von Krankenhaus-Entgeltsystemen. 


Fotokredit: Anna Logue Fotografie / ZEW


Autor/in: Daniel Poeschkens, Abteilungsleiter Marketing