Die Neurosen des 21. Jahrhunderts Suchtfaktor digitale Medien

Bis zu 150-mal täglich schauen Menschen auf ihr Smartphone. Für viele ist das Handy zu einem lebenskontrollierenden Faktor geworden. Wie wir heil durch den digitalen Dschungel finden und unsere psychische Widerstandskraft stärken, beschreibt der Münchner Psychologe und Psychotherapeut Johannes Hepp in seinem Buch „Die Psyche des Homo Digitalis – 21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern“.


Wie gehen Sie selbst mit Social Media um?

Nachdem ich meinen Facebook-Account sehr aufwendig löschen konnte, bin ich Social-Media-frei und habe lediglich für meine Praxis noch eine Webseite. Ich würde aber nie persönliche Fotos, welcher Art auch immer, im Internet veröffentlichen. Selbst bei WhatsApp habe ich im Kleingedruckten erfahren, dass die privaten Fotos auch für kommerzielle Zwecke genutzt werden dürfen. Damit kann es passieren, dass sich ganz normale Kinderfotos plötzlich auf den Pädophilen-Seiten wiederfinden. Da habe ich WhatsApp bei mir auch gelöscht. Unsere psychische Gesundheit ist in ganz vielen unterschiedlichen Facetten in Gefahr, wenn wir nicht lernen, unser Onlineverhalten bewusst zu gestalten.


Wie hat sich der Bedarf an Psychotherapie seit der Vor-Corona-Zeit entwickelt?

Gerade seit Beginn der Coronapandemie ist vor allem in Großstädten der Therapiebedarf deutlich gestiegen. Auch ich erlebe einen regelrechten Ansturm auf meine Praxis. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat ermittelt, dass bei Erwachsenen die Nachfrage um 40 Prozent, bei Kindern und Jugendlichen sogar um 60 Prozent zugenommen hat. Das ist schon dramatisch.


Warum wirkt sich der gestiegene Umgang mit den digitalen Medien bei vielen so negativ aus?

Die ganzen Online-Hilfsmittel, mit denen wir versucht haben, irgendwie durch die Pandemie zu kommen, haben sich dann doch nicht psychisch so ausgewirkt, wie das normale Leben, das wir davor hatten. Es macht einen Riesenunterschied, ob ich in der Früh zur Arbeit gehe, nach Feierabend nach Hause gehe und mich dann auf meine Familie einlasse. Oder ob ich im Homeoffice letztlich rund um die Uhr theoretisch erreichbar bleibe und ich es auch mental nicht schaffe, die Arbeit zu beenden. Das sind alles Stressoren, die überhandnehmen und dann zu mannigfaltigen psychischen Krankheiten führen.


Welche neuen psychischen Erkrankungen hat das Internetzeitalter bei Ihren Patientinnen und Patienten hervorgebracht?

In meiner Praxis habe ich zunehmend mehr Anfragen, die ich gar nicht mehr behandeln kann. Patientinnen und Patienten sagen beispielsweise in den seltensten Fällen: Ich brauche eine Therapie, da ich eine Online-Pornosucht habe. Sondern sie sagen: Ich habe eine Depression. Wir mussten erst rausfinden, dass das mit der Pornosucht ganz eng zusammenhängt. Der Patient fand aus der Depression, indem er wieder Sex mit seiner realen Freundin hatte. Und so war am Ende die Pornosucht gelöst und behandelt und sekundär auch die Depression. In meinem Buch habe ich insgesamt sieben unterschiedliche Internetsüchte kategorisiert.


Wie wirkt sich die digitale Vereinnahmung auf die gesellschaftliche Entwicklung aus?

Unterteilt in Liebe, Arbeit und Sinn beschreibe ich 21 Neurosen mit ihren unterschiedlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft, auf unser Zusammenleben und auf unsere psychische Gesundheit. Und das, glaube ich, muss man dann auch so differenziert betrachten. Ein Beispiel ist die Datingneurose, also das Verliebtsein ins Verliebtsein. Das heißt, Betroffene sind abhängig von ständig neuen Dates, haben aber Ängste, sich wirklich auf eine Beziehung einzulassen. Oder sie leiden unter Einsamkeit, einer Isolationsneurose. Das hat sich gerade während Corona massiv gesellschaftlich ausgewirkt. Der Hang zu immer radikaleren Inhalten im Netz, die einen weiter radikalisieren, nenne ich die extremistische Neurose. Aber auch Body Shaming beispielsweise, die Vergleichssucht, kommt vor allem bei jungen Mädchen vor, die dann einen Überbietungswettbewerb im Internet machen, unter dem Motto „Wer ist die Magersüchtigste?“. Das sind sehr unterschiedliche Auswirkungen, die schleunigst angegangen gehören.


Brauchen wir mehr Gesetze für einen geschützten Umgang mit der Digitalwelt?

Ja, da sehe ich auch den Gesetzgeber ganz maßgeblich in der Pflicht, weil die Eltern zunehmend überfordert sind. Zu mir kommen auch Eltern mit Burn-out, weil die es nicht mehr packen, den Smartphone-Konsum der Kinder zu kontrollieren. Da fühlen Sie sich zunehmend völlig ohnmächtig als Eltern. So muss man beispielsweise auf so gut wie keiner kostenlosen Pornoseite im Internet sein Alter nachweisen. Der durchschnittliche Erstkonsum von Online-Pornos in Deutschland liegt bei elf Jahren. Wenn es dazu eine gesetzliche Regelung gäbe, würde das die Eltern massiv entlasten. In den USA wird gerade darüber diskutiert, dass Minderjährige nachts nicht mehr auf Social Media dürfen und können.


Wie kann man denn herausfinden, ob man schon unter einer der 21 Neurosen leidet?

Wir haben einen Hang zu verschiedenen Dingen, die uns nicht guttun. Aber ob das schon gleich eine Neurose ist, die auch behandlungsbedürftig ist, kann man auch über mein Buch klären. Denn bei vielem reicht auch einfach schon die Erkenntnis der Zusammenhänge. Ähnlich, wie bei einer gesunden Ernährung. Wenn man es kapiert hat, kann man da gegensteuern. Wenn es allerdings schon eine ausgewachsene Sucht oder eine echte Angstneurose, weil ich mich rund um die Uhr im Internet mit dem Weltuntergang beschäftige, dann wäre das behandlungsbedürftig wie eine andere Angstneurose auch.


Wie können wir uns selbst davor schützen und unsere psychische Widerstandskraft stärken?

Bei jedem ist es etwas anderes. Ich muss zuerst mal herausfinden, wo meine Schwachstellen liegen, wo ich eher psychisch labil und leicht beeinflussbar bin. Beim einen ist es die Online-Gaming-Sucht, die sich während der Pandemie verdoppelt hat. Wieder andere neigen zu Verschwörungstheorien, da sie immer zwanghafter im Netz unterwegs sind und wo sie sich immer einseitiger weiter informieren. Oder man packt kein Homeoffice, weil man für seine psychische Gesundheit dringend den Weg zur Arbeit oder den direkten Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen braucht.


Hilft es, eine eigene Medienkompetenz zu entwickeln?

Jeder muss schauen, dass er gesund bleibt. Ich lese manchmal stundenlang „Die Zeit“ online auf dem Smartphone und mir geht es sehr gut dabei. Wichtig sind die Inhalte und was wir erleben, nicht wie lange. Das ist nicht nur eine Medienkompetenz, sondern die psychische Kompetenz. Wir sollten die neuen digitalen Möglichkeiten unbedingt bewusst nutzen.


> Johannes Hepp: Die Psyche des Homo Digitalis. 21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern. Wie wir unsere psychische Widerstandskraft stärken und heil durch den digitalen Dschungel finden


Autor/in: Brigitte Breuer