Das Ende des Faxgeräts

ePA, Telematikinfrastruktur, Praxissoftware –  die Digitalisierung im Gesundheitswesen ruckelt an vielen Stellen. Kürzlich ist auch die Testphase für das eRezept verlängert worden. Rainer Höfer, Leiter der Abteilung IT-Management und Telematik beim GKV-Spitzenverband, erklärt im Interview, warum das richtig ist und wie die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorangeht.


Das eRezept liegt auf Eis. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hält die Anwendung für noch nicht ausgereift. Hat er recht?

Hier muss ich direkt widersprechen: Das eRezept liegt nicht auf Eis. Die Testphase vor der verpflichtenden Einführung ist verlängert worden und das eRezept wird umfassend im Versorgungsalltag getestet. Herr Lauterbach hat aber insofern recht, als dass es noch einige Hürden zu überwinden gilt, damit das eRezept in der regelhaften Anwendung reibungslos funktioniert. Denn das ist das Wichtigste: Ohne einen funktionierenden Prozess, der allen Beteiligten, aber allen voran den Versicherten, einen echten Mehrwert bietet, kommt die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht voran. Und genau um das zu erreichen, ist eine Testphase da.


Im Juli 2021 begann die Testphase, zum Jahresanfang sollte das digitale Rezept die Papierversion eigentlich ablösen. Was ist schiefgelaufen?

Es ist richtig, dass im Juli die Testphase in der Produktivumgebung beginnen sollte. Man hat aber davor vergessen, einen wirklichen Integrationstest mit allen Beteiligten, also Praxisverwaltungssystemen, gematik-Komponenten, Apotheken-Software, Software der Abrechnungszentren und Krankenkassen, durchzuführen. Die Terminplanung war nur auf die Komponenten der gematik ausgerichtet und nicht auf die komplette Prozesskette – von der Verordnung bis zur Abrechnung. Die Ergebnisse der ursprünglichen Testphase im Raum Berlin/Brandenburg waren nicht zufriedenstellend – letztlich haben nur 42 eRezepte den gesamten Prozess erfolgreich durchlaufen. Insofern war es richtig, die Testphase zu verlängern, auszuweiten und transparenter zu gestalten.


Schon wieder ein Digitalprojekt im Gesundheitswesen, das nicht fristgerecht starten kann. Was läuft falsch und wer trägt die Schuld dafür?

Die letzte Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass das Bundesgesundheitsministerium 51 Prozent der Gesellschafteranteile an der gematik übernommen hat – das Ministerium kann daher mit einfacher Mehrheit Entscheidungen quasi allein treffen. Bei solchen komplexen IT-Projekten wie dem eRezept funktioniert ein solches „Durchregieren“ aber nicht. Besser wäre es, die Selbstverwaltung wieder viel stärker einzubinden und auf die dort vorhandenen Erfahrungen zu setzen. Statt einseitig starre Fristen vorzugeben, die dann nicht gehalten werden können, sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Ein nicht unerhebliches Risiko in der Umsetzung der Digitalprojekte stellt die Umsetzungsgeschwindigkeit der Industrie dar. Viele vom Gesetzgeber vorgegebene Termine werden von der Industrie aus unterschiedlichen Gründen nicht eingehalten, etwa wegen Problemen bei der Umsetzung oder wegen Ressourcenengpässen. Hard- oder Software stehen damit auch den über 100.000 Leistungserbringenden nicht zur Verfügung, die sich eben nicht in ein paar Tagen nahezu gleichzeitig ausstatten lassen.


Wie geht es jetzt weiter: Probleme beheben oder noch einmal ganz neu anfangen?

Ein Moratorium oder Reset der Telematikinfrastruktur ist der völlig falsche Weg. Um Schwierigkeiten zu beheben, sollten alle Beteiligten konstruktiv zusammenarbeiten und im Sinne einer ehrlichen Fehlerkultur Probleme transparent benennen. Aber heute schon lässt sich sagen, dass die ambitionierten Zeitpläne der gematik, die vermutlich mit der vorhergehenden Besetzung des Gesundheitsministeriums abgestimmt wurden, überarbeitet und entzerrt werden müssen. Wenn wir in dem geplanten Tempo weitermachen, werden alle zukünftigen Projekte mit den gleichen Unzulänglichkeiten wie zum Beispiel ePA, eRezept oder eAU zu kämpfen haben. Wir benötigen eine durchdachte Planung der zukünftigen Projekte mit Berücksichtigung aller damit verbundenen Prozesse und vor allem dem Fokus auf den Nutzen für Patientinnen und Patienten, Leistungserbringende und Kostenträger.


Betroffen ist auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Was ist hier das Problem und wie kann es gelöst werden?

Auch hier zeigt sich, dass starre Fristen, die ohne echtes Mitspracherecht aller Beteiligten vorgegeben werden, falsch sind. Das gilt vor allem für anspruchsvolle Projekte, bei denen Anpassungen nicht ungewöhnlich sind. So wie beim eRezept auch, ist es bei der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sinnvoll, die Fristen zu verlängern, um am Ende funktionierende Prozesse zu haben. Auch beim Projekt der eAU muss der Hinweis auf die Industrie wieder angebracht werden. Ein Großteil der Leistungserbringenden ist einfach nicht in der Lage, die eAU anzuwenden. Zum einen sind viele von ihnen immer noch nicht an die Kommunikation im Medizinwesen, kurz KIM, angeschlossen, haben noch keinen elektronischen Heilberufeausweis oder haben keine für die Erstellung der eAU notwendige Softwarekomponente in ihrem Primärsystem. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass wir hier für die Zukunft verbesserte Möglichkeiten schaffen müssen, dass auch die Primärsysteme vor dem Einsatz in der Produktivumgebung eine gewisse Qualität erreichen.


Was meinen Sie damit?

Es kann nicht sein, dass wir die Fehler von circa 180 Primärsystemen in Verbindung mit nahezu 100 Krankenkassen erst im Produktivbetrieb testen, da vorher kaum Systeme zur Verfügung standen. Abgesehen davon läuft die Pilotierung des eAU-Prozesses zwischen Kassen und Arbeitgebenden, für die der GKV-Spitzenverband verantwortlich ist, gut: Mit den ersten Zwischenergebnissen können wir zufrieden sein. Von Vorteil wäre, wenn Ärztinnen und Ärzte ihre Rolle im Prozess konsequenter ausfüllen und die ausgestellten eAU über die TI häufiger an die Kassen senden würden.


Die gematik hat das praktische TI-Dashboard. Aber ist das eigentlich mehr als eine Spielerei? Was bringt es?

Die Frage ist vielmehr: Wem bringt es etwas? Das TI-Dashboard zeigt zum Beispiel, wie viele eRezepte bereits eingelöst oder wie viele eAU schon versandt wurden. Hinzugekommen ist vor Kurzem der TI-Score, an dem Praxen und Kliniken ablesen können, inwieweit ihre Software das eRezept bereits unterstützt. Solche Anwendungen bieten natürlich nicht mehr als einen knappen Überblick über den aktuellen Stand. Dies ist sicher für interessierte Beobachter der gematik hilfreich. Für uns sind ganz andere Informationen interessant: Warum kommen wir nicht schneller vorwärts, welche Fehler oder Probleme existieren? Wie viele Systeme von welcher Menge an Gesamtsystemen sind im Test in die Erprobung eingebunden und wie schreitet die Ausstattung voran? Wir müssen hier einfach aufpassen, dass wir nicht anfangen, mit schönen, bunten Dashboards vorzutäuschen, dass alles auf Grün steht, aber die eigentlichen Prozesse nicht wirklich ans Laufen kommen. Bestes Beispiel aus meiner Sicht ist die ePA. Die haben wir seit mehr als einem Jahr im Feld und alle Kassen stehen auf Grün, aber in der Praxis ist die ePA für die Versicherten im Zusammenspiel mit den Leistungserbringenden nicht nutzbar, da kaum ein Primärsystem dafür ausgelegt ist oder noch nicht die richtige Konnektorversion vorhanden ist.


Und wenn man sich die Zahlen dort anschaut und mit dem vergleicht, was täglich im Gesundheitswesen verarbeitet wird, ist nur ein geringer Anteil digital. Stimmt dieser Eindruck?

Dieser Eindruck, bezogen auf die eAU, Arztbriefe und eRezepte, ist im Moment natürlich richtig. Es werden zum Beispiel jährlich etwa 150 Millionen Arztbriefe in Deutschland verschickt, normalerweise noch per Fax. Über KIM und somit über die Telematikinfrastruktur wurde bislang jedoch nur eine sechsstellige Anzahl versandt. Ich hoffe, dass die Akzeptanz in den Arztpraxen steigt, damit das Faxgerät bald ausgedient hat. Auf der anderen Seite werden aber im Gesundheitswesen schon seit Mitte der 1990er-Jahre die Abrechnungen der Leistungserbringenden komplett digital mit den Krankenkassen ausgetauscht. Hier gibt es eine Digitalisierung, von der andere Bereiche durchaus träumen. In vielen Bereichen des täglichen Lebens können trotz gesetzlicher Verpflichtung heute keinerlei elek­t­ronische Rechnungen erstellt und übermittelt werden. Im Gesundheitswesen werden diese Daten hingegen schon millionenfach und zu 100 Prozent digital übermittelt. Gleiches gilt für den Datenaustausch im Arbeitgeberverfahren. Von daher ist es richtig, dass im Gesundheitswesen noch eine Menge Potenzial steckt. Aber wir sind bei Weitem nicht so analog unterwegs, wie es häufig dargestellt wird.


Corona hat die Digitalisierung kräftig gepusht. Ist dieser Effekt schon wieder verpufft, oder kommen wir bei der Digitalisierung wirklich voran?

Wir kommen voran. An vielen Stellen hat die Coronapandemie gezeigt, was möglich ist und digitale Prozesse alltäglich werden lassen. Die Videosprechstunde ist ein Beispiel dafür: Sie hat eine massive Ausweitung erfahren und wird in zahlreichen Bereichen der Versorgung auch über die Pandemie hinaus zum Einsatz kommen. Auch der mittlerweile selbstverständliche Umgang mit dem digitalen Impfnachweis zeigt, welche Vorteile digitale Prozesse haben. Dieser Effekt wird bleiben und sich auch weiter fortsetzen.


Was muss sich dringend ändern, damit das Gesundheitswesen schneller digitaler wird?

Natürlich wünschen wir uns alle, dass die Digitalisierung immer schneller voranschreitet. Dabei dürfen wir aber einen Fehler aus meiner Sicht nicht machen: Wir sollten nicht nur versuchen, bestehende Prozesse eins zu eins digital umzusetzen oder möglichst viel interessante Technik ins Feld zu bringen. Wir müssen die Prozesse neu, digital denken und dann umsetzen. Nur so werden wir Erfolg haben. Neben diesem Vorgehen gibt es einige Stellschrauben, die wir in Zukunft beachten sollten. Wir brauchen einen höheren Grad der Interoperabilität zwischen den verschiedenen Systemen innerhalb des Gesundheitswesens. Ich hoffe sehr, dass das neue Expertengremium für Interoperabilität, das die gematik geschaffen hat, hier schnell Ergebnisse vorweisen kann. Wichtig ist aber, dass nicht nur Interoperabilität festgelegt wird, es muss auch eine Verbindlichkeit bei der Umsetzung geschaffen werden. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass der GKV-Spitzenverband bei diesem Gremium eingebunden wird – immerhin sind wir der zweitgrößte Gesellschafter der gematik und finanzieren sie mit den Beiträgen der gesetzlich Versicherten zu 93 Prozent.


Und was noch?

Wichtig ist auch, dass möglichst alle Sektoren bereit sind, sich an den Tests von eRezept und eAU zu beteiligen und die ePA aktiv zu nutzen – denn letztlich werden die Versicherten vor allem im Zusammenspiel mit den Leistungserbringenden vom Mehrwert digitaler Anwendungen überzeugt. Ein weiterer Punkt sind Fragen des Datenschutzes. Wir brauchen einen Datenschutz im Sinne der Versicherten, der auf der einen Seite deren Rechte und Freiheiten schützt und auf der anderen Seite stets den Nutzen der jeweiligen Maßnahme abwägt, sodass Datenschutz am Ende nicht zur Bremse bei sinnvollen Versorgungsverbesserungen wird.


Was denken Sie: Wo stehen wir in fünf Jahren?

Mit solchen Prognosen bin ich vorsichtig. Ich denke aber, dass in fünf Jahren die elektronische Patientenakte eine wichtige Rolle im Gesundheitswesen eingenommen haben wird – die von der Ampel-Koalition geplante opt-out-Regelung ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Bezogen auf die Telematikinfrastruktur habe ich die Hoffnung, dass wir uns dann im Bereich der TI 2.0 befinden und die TI für uns kein eigentliches Thema mehr ist, sondern eine selbstverständlich vorhandene Plattform, bei der wir nur noch über sinnvolle Anwendungen im Rahmen einer besseren Versorgung diskutieren. So wie wir heute über die Sinnhaftigkeit und den Nutzen von Computerprogrammen oder Apps diskutieren, aber nicht über Rechner, Betriebssysteme und Smartphones. Außerdem hoffe ich, dass das Faxgerät künftig bei der Kommunikation im Gesundheitswesen tatsächlich keine Rolle mehr spielt.


Zur Person

Rainer Höfer absolvierte sein Studium der Informatik in Bonn. Seit 1985 war er im Bereich der Softwareentwicklung im Gesundheitswesen zunächst als Entwickler und dann in verschiedenen leitenden Funktionen als Vorstand und Geschäftsführer tätig. Seit Mai 2009 leitet er beim GKV-Spitzenverband die Abteilung IT-Systemfragen/Telematik beziehungsweise ab Januar 2020 die erweiterte Abteilung IT-Management/Telematik. Diese ist zuständig für den elektronischen Datenaustausch zwischen den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung und deren Geschäftspartnern, die Einführung der Telematikinfrastruktur und ihrer Anwendungen durch die gematik sowie die komplette IT des GKV-Spitzenverbandes.


Autor/in: Daniel Poeschkens, Abteilungsleiter Marketing