Computerspiele können Krankheiten vorbeugen

Etwa drei Milliarden Menschen spielen weltweit an Computern, auf Handys und Tablets oder mit Konsolen. Manouchehr Shamsrizi ist Soziologe und Unternehmensgründer. Der Gaming-Spezialist und Vorreiter der Start-up-Szene spricht im Interview über die Einsatzmöglichkeiten von Gaming in der Gesundheitsversorgung, das fehlende Gaming-Mindset bei der Digitalisierung und eine defizitorientierte Politik.


Gaming verbinden viele Menschen mit bewegungsarmen Stubenhockern, die stundenlang auf Bildschirme starren. Was soll daran gesund sein?

Das ist ein Vorurteil! Unabhängig davon kann Gaming Prävention, Rehabilitation und sogar Therapie sein. Davon profitieren Menschen jeden Alters.


Wie soll das funktionieren?

Es funktioniert bereits! Wir selbst haben beispielsweise, in Kooperation unter anderem mit der Charité, eine Spielkonsole für Senioren entwickelt. Sie erhalten und verbessern damit ihre geistige und körperliche Fitness. Die verschiedenen Spiele – darunter Kegeln, Tanzen, oder Motorradfahren – werden durch Bewegungen gesteuert. Eine Kamera erfasst die Gesten und überträgt sie ins Spiel.


Ältere Menschen hadern oft mit komplexer Technik. Wie nehmen Sie ihnen die Scheu vor einem interaktiven Videospiel?

Durch extrem einfache Handhabung. Unsere „memoreBox“ hat genau einen Knopf, den Ein- und Ausschalter. Nach dem Einschalten führt ein Avatar durchs Programm. Der Schwierigkeitsgrad des Spiels passt sich automatisch den Fähigkeiten des Spielers an. Außerdem ist die Box für Menschen mit Einschränkungen geeignet. Es lässt sich auch sitzend auf einem Stuhl oder im Rollstuhl spielen.


Welche gesundheitlichen Effekte erzielen die Spiele?

Belegt ist, dass Personen in der stationären Pflege seltener stürzen, wenn sie regelmäßig spielen. Der Verlust der kognitiven Fähigkeiten wird zudem verlangsamt. Ein weiterer Vorteil: Durch die gemeinsame Aktivität fühlen sich die Menschen weniger allein. Gaming hilft gegen Einsamkeit, und die ist vor allem bei älteren Menschen ein großes Thema. Die „memoreBox“ gehört zu den ersten Videospielen weltweit, die als Medizinprodukt zugelassen sind. Sie wird mittlerweile bundesweit in mehr als 500 Altenheimen eingesetzt, auf Basis der Studienergebnisse bezahlt durch Krankenkassen wie die AOK.


Was unterscheidet Gaming von anderen Therapiemöglichkeiten?

Wissenschaftler bezeichnen Videospiele als „Empathie-Maschinen“. Das heißt, die Spieler schlüpfen in die Rolle einer Figur auf dem Bildschirm und erleben unmittelbar und nachvollziehbar die Folgen ihrer Handlungen. Deshalb sind Spiele auch optimal, um Informationen zu vermitteln.


Welche Informationen beispielsweise?

In Südamerika wollte ein Unternehmen der Gesundheitswirtschaft junge Menschen, die über analoge Kommunikationswege kaum noch erreichbar sind, über den Nutzen einer Impfung gegen Covid-19 aufklären. Das Unternehmen kooperierte mit einer Gaming-Plattform, die in ihr Rollenspiel die Option, sich virtuell impfen zu lassen, integrierte. Wer zusätzlich im richtigen Leben geimpft war, bekam im Spiel einen Bonus. Das hat sehr gut funktioniert. Mithilfe von Gaming können Grenzen von Kultur, Milieu oder Bildungsweg durchbrochen und Menschen erreicht werden, die sonst nur schwer oder gar keinen Zugang zu solchen Themen haben.


Was können Gesundheitspolitiker von Spieleentwicklern lernen?

Den Blickwinkel zu ändern! Im Gesundheitsbereich betrachtet man Patienten oft allein als Summe ihrer Krankheiten, als Adressaten von Diagnosecodes und Leitlinien. Also tendenziell defizitorientiert. Gamer beziehungsweise Game-Entwickler haben naturgemäß immer eine ressourcenorientierte Betrachtung. Sie fokussieren sich auf vorhandene Fähigkeiten und das zu erreichende Ziel.


Was heißt das konkret?

Es geht um die Grundeinstellung: Spieleentwickler wissen, dass ein Spiel nur dann gut ist, wenn es dem Spieler gefällt. Also muss der Spieler und sein Können im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen. Übertragen auf den Gesundheitsbereich heißt das: patientenorientierte Versorgung. Statt auf Krankheiten zu warten, müsste der Schwerpunkt auf der Prävention liegen. Dabei gilt: Konkrete Computerspiele können konkreten Krankheiten vorbeugen helfen, aber auch darüber hinaus müssten sämtliche Digital-Health-Projekte mit einem Gaming-Mindset gedacht werden.


Was bedeutet „Gaming-Mindset“ in diesem Zusammenhang?

Neben der schon erwähnten Grundhaltung gibt es einen weiteren Aspekt. Spieleentwickler beteiligen die Gaming-Community konsequent an der Spieleentwicklung. Die Gamer vernetzen sich, testen und kritisieren neue Produkte. Die meisten Digital-Health-Projekte funktionieren leider nicht so. Nehmen Sie die elektronische Patientenakte: An deren Entwicklung sind Patienten bislang kaum beteiligt.


Welche Gaming-Projekte im Gesundheitsbereich planen Sie als Nächstes?

Ich habe zwei Herzensprojekte, die ich gern bald umsetzen würde. Zum einen will ich ein Spiel für Kinder entwickeln, die an Neuronaler Ceroid-Lipofuszinose, also an „Kinderdemenz“, leiden. Ich möchte, dass die kleinen Patienten, trotz ihrer Einschränkungen, mit ihren Familien Spaß haben. Zum anderen suche ich neue Wege in der Lerntherapie. Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (Dyslexie) sollen mithilfe eines Games nachhaltig, inklusiv, und spielerisch lernen. Gemeinsam mit Freunden bereiten wir beide Konzepte gegenwärtig vor.


Welche Rolle sehen Sie für Gaming in der Zukunft?

Ich glaube, dass Gaming noch gesellschaftsprägender wird. Die Menschen werden Auswirkungen dieser Kulturtechnik nahezu überall spüren – auch wenn nicht immer offensichtlich ist, dass sich hinter einer digitalen Anwendung solche Technologien und Ideen verbergen, die ursprünglich dem Gaming entspringen. Nur ein Beispiel: OpenAI, die Firma hinter ChatGPT, hat ihre Algorithmen am Videospiel Dota2 trainiert.

 

Zur Person

Manouchehr Shamsrizi ist Co-Founder des „gamelab.berlin“ am Exzellenzcluster der Humboldt-Universität in Berlin, Co-Founder und ehemaliger CEO der Retro-Brain GmbH in Hamburg, und Fellow des Salzburg Global Seminar. Er war der erste Gaming-Experte des Auswärtigen Amts.

Foto: Jewgeni Roppel


Autor/in: Christine Harf, Abteilung Marketing und Kommunikation